Grußwort des Landtagspräsidenten Dr. Matthias Rößler zur Preisverleihung 2010

Sehr geehrte Frau Dr. Smolnik,

sehr geehrte Vertreter der Stifterin und des Stiftungsrates,

sehr geehrter Herr Direktor Wiesner, Dir. des Tschechischen Kulturministeriums, verehrte Gäste,

vor allem aber natürlich: Sehr geehrte Preisträger,

es ist mir eine Ehre, die Übergabe der Preise und Stipendien gemeinsam mit dem Vertreter der Stifterin vorzunehmen und ich freue mich sehr, aus diesem Anlass einige Wort an Sie richten zu können.Seit meiner Jugend stellt die Auseinandersetzung mit Archäologie und Völkerkunde sowie den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen für mich immer wieder eine große persönliche Bereicherung dar.Angesichts der Neuerscheinungen von populärwissenschaftlicher Literatur habe ich den Eindruck gewonnen, dass insbesondere die Archäologie in der öffentlichen Wahrnehmung heute eine viel bedeutender Rolle als noch vor einigen Jahren spielt.

Das Interesse der Bevölkerung und die Verantwortung der Öffentlichkeit scheinen gewachsen zu sein.

Schon lange wird Archäologie nicht mehr als belastender Kostenfaktor empfunden, der durch die verschiedensten Ausgrabungen entsteht.

Das ist in den letzten Jahren gerade hier in Dresden im Bereich der Neumarktbebauung bis hin zur Schlossstraße oder während der Sicherungsarbeiten im Altmarktbereich ins Auge gefallen.

Die Grabungsarbeiten standen dem Fortschreiten der Baumaßnahmen im öffentlichen Interesse und der touristischen Wahrnehmung in nichts nach.

Ganz im Gegenteil.

Die archäologische Forschung wird als wichtigstes oder zumindest als unverzichtbares Element des

verantwortlichen Umgangs mit der Geschichte der unmittelbaren Umgebung, des urbanen Lebensumfeldes der Menschen verstanden.

Archäologische Denkmäler und die museale Aufbereitung und Präsentation von Forschungsergebnissen fördern die Attraktivität jeder Region.

Sie wirken sich positiv auf die Lebensqualität der Menschen aus und tragen zu einer behutsamen touristischen Erschließung ländlicher Räume bei.

Für mich stellt die heutige Würdigung wissenschaftlicher und fachlicher Leistungen daher eine willkommene Gelegenheit dar, um diese hohe gesellschaftliche und landespolitische Bedeutung der Archäologie ins Bewusstsein zu rufen.

Zukunft braucht Herkunft. Dieses geflügelte Wort ist auch hierzulande im häufiger zu hören.

Es lohnt sich tiefer darüber nachzudenken. Für mich liegt im Gehalt dieser Worte eine ganze Philosophie. Es geht dabei um nichts Geringeres als um unsere Existenz und ihre Qualität.

Die damit verbundene und wohl eine der ältesten Menschheitsfragen und Denkaufgaben, woher wir kommen und wohin wir gehen, ist immer eine Frage nach der eigenen Identität und der eigenen Kulturentwicklung im Kontext der Kulturen der Welt.

Dieser existenziellen Frage geht die Archäologie als „Lehre vom Anfang“, die sich der historischen Vorzeit und damit unseren Wurzeln zuwendet, mit allen Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft letztendlich nach.

Vor diesem Hintergrund versteht sich die Tätigkeit der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Mitteleuropäer gleichsam miteinander verbindet.

Pro Archaelogia Saxoniae fördert herausragende archäologische Forschungsvorhaben und Projekte in Sachsen, Polen und Tschechien.

Es ist der Wunsch der Stifterin, der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH, den grenzübergreifenden wissenschaftlichen Dialog zu intensivieren und somit einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Integration zu leisten.

Wir haben es in Mitteleuropa mit einem gemeinsamen kulturellen Erbe zu tun, dass sich durch keine Grenzziehungen auf der politischen Landkarte verwischen lässt.

Trennende Grenzen waren immer nur vorübergehende politische Erscheinungen, während völkerverbindene Grenzen langfristig zur Kulturentwicklung und zum Gedächtnis der Menschheit beigetragen haben.

Das gilt gleichermaßen an jenen Naht- und Bruchstellen der Geschichte, von denen uns ausschließlich materielle Hinterlassenschaften überliefert worden sind.

In diesem Sinne danke ich der Stiftung und der Stifterin, auch im Namen der Abgeordneten des Sächsischen Landtags, für ihr zukunftsweisendes Engagement, wie es in unserer Preisverleihung auf beeindruckende Weise zum Ausdruck kommt.

Vielen Dank.

 

 

 

 

Rede der Landesarchäologin Frau Dr. Judith Oexle für die Preisverleihung des Werner Coblenz Preises, sowie des Gerhard Bersu Stipendiums der Stiftung Pro-Archäologia-Saxoniae


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
Sehr geehrter Herr de Marcus,
Sehr geehrter Herr Professor von Thadden,
Sehr geehrter Herr Generalkonsul Krol,
Sehr geehrter Herr Konsul Bednar,

meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete,
verehrte Gäste,
liebe Freunde,


Wólbernosæe haben Sie begrüßt mit dem Lied „Ki¾ so swìrnje lubo maja“, das heißt „die, die sich gerne haben“ – ein wunderbarer Anfang für diesen Abend.

Wólbernosæe – das sind Fabian Kaulfürst, Juliana Kaulfürst, Judith Walde, Jadwiga Nuck und Christoph Rehde, junge Sorben aus Sachsen aus den verschiedensten Berufsfeldern, die seit fast zehn Jahren zusammen musizieren.

Im Namen der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae darf ich Sie heute abend sehr herzlich im Japanischen Palais, in den Ausstellungsräumen des Landesmuseums für Vorgeschichte, begrüßen. Heute abend begleite ich Sie durch die Veranstaltung zu deren Gelingen viele Kolleginnen und Kollegen beigetragen haben, denen ich herzlich danken will.

Lassen Sie mich kurz die Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae vorstellen.

Stifterin des Stiftungskapitales ist die Mitteldeutsche Braunkohle AG - MIBRAG, die heute abend durch Ihren Vorstandsvorsitzenden Bruce de Marcus vertreten ist. Die mitteldeutsche Braunkohle AG ist dem Landesamt für Archäologie seit 1993 ein vertrauter Partner. Dort wo Kohle abgebaut wird, gibt es bedeutende archäologische Befunde und Funde, deren Bergung und Sicherung vom Kohleförderer bezahlt wird.

Verhandlungen um Geld bringen Nähe. Man debattiert nicht nur, sondern man lernt sich kennen und schätzen. In vielen Gesprächen vor allem mit Bernd Heggemann, dem Prokuristen der MIBRAG, entstand die Idee, die künftigen archäologischen Grabungen im Tagebau Schleenhain im Südraum Leipzig über eine Stiftung zu finanzieren. Dabei sollte diese so zugeschnitten sein, dass der Ertrag nicht nur für die Bergung archäologischer Zeugnisse, sondern für innovative archäologische Forschungsprojekte in Sachsen ausreichen würde. Großherzig nahm die Mitteldeutsche Braunkohle AG auch den Vorschlag auf, zusätzlich einen Preis, den Werner Coblenz Preis, und Forschungsstipendium, das Gerhard Bersu Stipendium,  für den wissenschaftlichen Nachwuchs einzurichten und den Geltungsbereich der Stiftung auf die Wojewodschaft Niederschlesien und die angrenzenden Krajs in der Tschechischen Republik zu erweitern. Die MIBRAG hat viele Wünsche in Erfüllung gehen lassen!

Erlauben Sie mir, die Namengeber des Preises für hervorragende wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Archäologie ebenso wie für das Stipendium kurz vorzustellen.

Werner Coblenz wurde 1917 in Pirna geboren, nach Studien in Marburg, Wien, Leipzig und Kiel promovierte ihn Gero von Merhart 1947 in Marburg. Als einziger der Marburger Kommilitonen blieb er nicht im Westen, sondern kehrte in seine sächsische Heimat zurück. Von 1949– 1984 stand er dem Landesmuseum für Vorgeschichte hier im Japanischen Palais als Direktor vor. Über seine überaus fruchtbare wissenschaftliche Arbeit hinaus, war in der Zeit vor 1989 für eine ganze Generation von Kollegen persönlicher und wissenschaftlicher Ansprechpartner, über den eisernen Vorhang hinweg. Nicht nur die deutschen, sondern auch die polnischen und tschechischen Kollegen wussten um seine Weigerung, sich parteipolitischen Bindungen zu unterwerfen. Seine Zivilcourage, auch in schwierigen Zeiten - so nach 1968 und nach 1981 – hat ihm „zentraleuropäisches Vertrauen“ im Kreis der archäologischen Wissenschaft gerbacht.

Im Namen der Stiftung darf ich Ihnen, liebe Frau Coblenz, sehr herzlich dafür danken, dass der Preis den Namen Ihres verstorbenen Mannes tragen darf.

Das Stipendium trägt den Namen von Gerhard Bersu.

Gerhard Bersu wurde 1889 in Jauer/ Jawor, in Niederschlesien geboren. Nach dem Studium der Archäologie und Geologie trat er 1924 in die Römisch-Germanische Kommission in Frankfurt ein, zu deren Direktor er 1931 berufen wurde, Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erzwang 1937 die Pensionierung und Beendigung aller weitgespannten, wissenschaftlichen Unternehmungen zwischen Striegau und dem Nördlinger Ries. England bot dem aus einer jüdischen Familie stammenden Bersu  1939 Exil. Selbst die Internierung auf der Isle of Man nutzte er zu archäologischen Grabungen. Nach Kriegsende wurde er als Professor an die Royal Irish Academy berufen. 1950 kehrte Gerhard Bersu in seine alte Funktion zurück. Die Wiedereröffnung der zerstörten Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt 1956 war seine letzte Amtshandlung. Gerhard Bersu steht biographisch wie wissenschaftlich für eine europäische, nicht in nationalen Bezügen argumentierende Archäologie – er steht für eine europäische denkende und arbeitende Archäologie.

Im Namen der Stiftung danke ich Ihnen Herrn Professor Siegmar von Schnurbein, heute  Erstem Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, für Ihre Ermutigung, dem Stipendium den Namen von Gerhard Bersu zu geben.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, haben Sie herzlichen Dank dafür, dass Sie heute abend gekommen sind, die Preise und das Stipendium zu verleihen. Ich darf Sie an das Rednerpult bitten.

> Rede des Ministerpräsidenten
> Laudatio Doz. Dr. Jan Klapste, Prag, für S³awomir Mo¼dzioch
> Laudatio Prof. Dr. Kobylinski, Warschau, für Dirk Scheidemantel
> Preisverleihung
> Laudatio Prof. Dr. von Schnurbein für Petr ©ida, Prag

Laudatio von Frau Dr. Oexle für Frau Orlinska Grazyna

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
lieber Herr Brzezinski, 

die Runde der Preisträger beschließt ein Sonderpreis, den die Stiftung an Orlinska Grazyna und Wojciech Brzezinski für Ihre Monographie „Germanic antiquities from the Klemm Collection in the British Museum“ verliehen hat.

Der sächsische Hofrat Gustav Klemm ist ein klassischer Universalgelehrter des
19. Jh., der 1802 geboren, fast seine ganze Lebenszeit bis zu seinem Tod 1867 in Dresden verbracht hat. 1833 Jahren tritt er am Köngishof als Kurator für die königlich-sächsische Porzellan- und Gefäßesammlung in Erscheinung, 1835 wird er Sekretär der Altertumsgesellschaft und im selben Jahr Bibliothekar der königlich sächsischen Bibliothek - sein Arbeitsplatz stand hier, im Japanischen Palais.
Sein weitgespanntes wissenschaftliches Interesse führt ihn in die großen Sammlungen Europas – er reist, sammelt, forscht und schreibt. Ein Handbuch zur germanischen Altertumskunde ebenso wie eine Allgemeine Kulturgeschichte der Menschheit seien stellvertretend genannt. Weder zu Lebzeiten noch nach seinem Tod gelang es aber, finanzkräftige Käufer für seine kostbare archäologische und kulturgeschichtliche Sammlung in Sachsen zu gewinnen.
1868 erwirbt daher das British Museum die Klemm Collection – so heißt sie heute, die rund 20.000 – die antike Welt repräsentierende Objekte umfasst. Grazyna Orlinksa hat erstmals einen Teil dieser Sammlung, nämlich die sogenannten „germanischen Altertümer“ in einem Katalog der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Der größte Teil der über 600 Funde stammt aus Sachsen und Polen. Vertreten sind aber auch die Pfahlbaufunde des Bodensees, ebenso wie Objekte aus dem hallstattzeitlichen Salzbergwerk von Hallein bei Salzburg. Fast alle berühmten, zu Lebzeiten von Klemm schon aufgeschlossenen, Fundorte sind in dieser Sammlung belegt. Deren Bedeutung weist daher bis heute weit über den wissenschaftsgeschichtlichen Gehalt hinaus.

Grazyna Orlinska hat 1976 - 1981 prähistorische und frühmittelalterliche Archäologie in Warschau studiert, seit 1981 arbeitet sie am archäologischen Nationalmuseum in Warschau, wo sie seit 1990 die Abteilung `Bronzezeit´ leitet. Zwischen 1992 und 1996 konnte sie dank eines Stipendiums des British Museum die Klemm’sche Sammlung in London aufnehmen und den Katalog erstellen.
Wojciech Brzezinksi, 1974 bis 1979 ebenfalls Student der prähistorischen und  frühmittelalterlichen Archäologie in Warschau steht seit 2001 als Direktor dem Archäologischen Nationalmuseum in Warschau vor. Er hat das Projekt koordiniert und nimmt heute stellvertretend den Sonderpreis entgegen, da Frau Orlinska nicht nach Dresden kommen konnte.

Der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae hat sich für  diesen Sonderpreis entschieden, da der 1997 abgeschlossene und 2001 publizierte Katalog in ganz besonderer Weise die europäische Dimension von Archäologie widerspiegelt. Die sorgfältige Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte und die gelungene biographische Einbettung der Sammlungsgenese haben den wissenschaftlichen Beirat überzeugt. Der ausführliche Katalog ist vorzüglich recherchiert und mit exzellenten Zeichnung des Fundmateriales versehen. 140 Jahre nach dem Weggang der Sammlung aus Dresden nach London ist dank der Arbeit von Grazyna Orlinska und Wojciech Brzezinski die Sammlung Klemm der `Scientific community´ wieder zugänglich.
Wir waren uns bei unserer Entscheidung sicher, dass der Hofrat Klemm, der ja über dieses Haus -  wenn Sie so wollen  - heute Abend mit uns verbunden ist, mit Wohlgefallen diese Preisverleihung zur Kenntnis genommen haben würde.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident – darf ich Sie bitten, Herrn Brzezinski den Preis zu überreichen.

> Der Ministerpräsident übergibt die Urkunde und den Sonderpreis

Herr Dr.- Brzezinski wird sich kurz für den Sondepreis bedanken.

Bevor Wólbernosæe mit Na mnohe lìta – die Preisträger hochleben lässt, will ich ihnen kurz noch die Kolleginnen und Kollegen benennen, die im Rahmen der allgemeinen Projektförderung 2004 durch die Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae unterstützt werden.

Das Fördervolumen beträgt 107.500.-€, gefördert werden folgende
Vorhaben:
 
> Siehe `Geförderte Projekte´

Musik – Wólbernosæe

Frau Dr. Judith Oexle stellt kurz Herrn von Professor von Thadden vor.

> Professor Rudolf von Thadden

Rede des sächsischen Ministerpräsidenten, Prof. Dr. Georg Milbradt, anlässlich der Verleihung des Werner-Coblenz-Preises der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae, am 30. November 2004 in Dresden

Sehr geehrte Frau Oexle,
sehr geehrter Herr de Marcus,
sehr geehrter Herr von Thadden,
meine sehr geehrten Damen und Herren,


ich freue mich, Sie heute zur Verleihung des Werner-Coblenz-Preises der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae begrüßen zu dürfen. An einem Ort, der seit mehr als 200 Jahren etwas von der Kultur längst vergangener Zeiten vermittelt und dessen wunderbare Architektur uns zugleich etwas über die Geschichte unseres Landes erzählt.

In diesem historischen Ambiente mutet es etwas seltsam an, dass wir heute oft nicht mehr in die Vergangenheit blicken, wenn wir von historischen Momenten sprechen. Ein solcher fand erst vor einem halben Jahr statt. Am 30. April haben wir im Dreiländereck in Zittau die „Sternstunde Europas“ gefeiert haben, am 1. Mai haben wir dann die Wiedervereinigung Europas vollzogen – ohne Zweifel ein großer historischer Moment.


Doch ist die Sprache hier trügerisch. Denn es gibt nicht nur eine Geschichte der europäischen Wiedervereinigung, sondern viele. Denn es ist doch so: Ein Siebzigjähriger in Görlitz oder Zgorzelec, in Zittau oder in Liberec hat die politische Erweiterung der Europäischen Union anders erlebt als eine Fünfzehnjährige.

Zwar gehören beide als Deutsche, Polen oder Tschechen derselben nationalen Erinnerungsgemeinschaft an und schöpfen aus demselben kulturellen Gedächtnis. Dennoch ist ihr Blick auf die EU-Erweiterung verschieden, denn er ist geprägt von den Erfahrungen ihrer Generationen.

Der ältere Herr hat in seiner Lebenszeit in drei verschiedenen nationalen Währungen auf tschechischer und mindestens vier auf deutscher Seite gerechnet, er hat offene und geschlossene Grenzen erlebt, er hat erlebt, wie aus Sprachgrenzen nationale Grenzen wurden.

Die junge Frau dagegen wird, wenn sie Zittauerin ist, ihr erstes selbst verdientes Geld in Euro ausbezahlt bekommen – und möglicherweise wird sie sich nie wieder auf eine andere Währung einstellen müssen. Lebt sie dagegen in Polen oder Tschechien, so wird sie zumindest noch die Umstellung auf den Euro erleben.
Diese junge Frau wird aus der familialen Überlieferung oder aus dem Schulunterricht wissen, dass die Währungen und Grenzverläufe oft gewechselt haben. Ihr kommunikatives Gedächtnis, wie Jan Assmann es nennt, wird aber maßgeblich von der eigenen Grenz-Erfahrung geprägt. Das heißt: auch was wir als Geschichte erinnern, ist stark biographisch gefärbt. Gerade hier in Mitteleuropa sind unsere Biographien aber maßgeblich von den verschiedensten Grenzziehungen geprägt worden. So wie die sächsisch-tschechische Grenze die Biographie eines Siebzigjährigen aus dem Dreiländereck zutiefst prägt, so haben Grenzen die „Biographie“ Europas geprägt.

Deshalb haben Sie, sehr geehrter Herr von Thadden, in einem Aufsatz prägnant formuliert: „Grenzen sind das Thema Europas“. „Uns Deutschen“, schreiben Sie dort, „erscheinen Grenzen in der Regel weniger bedeutsam als unseren französischen Nachbarn. Wir lieben weiche Übergänge, breite Marken, die der Bewegung Spielraum lassen und mehr verbinden als trennen wollen.“ Im gleichen Atemzug aber weisen Sie darauf hin, dass Sie Grenzen in Ihrem Leben „nur selten als weich und bindend erfahren“ haben, sondern viel häufiger als einschneidend. Anschließend beschreiben Sie, wie sich Grenzen in Ihrem Leben „in immer neuen Varianten thematisch konkretisiert haben“, von den Reviergrenzen ihres Heimatortes über sprachliche und nationale Grenzen bis hin zur Teilungsgrenze zwischen den beiden deutschen Staaten.

Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, also einmal der Frage nachspüren wollen, wo im Leben es überall Grenzen gibt, dann lesen Sie Herr von Thaddens Aufsatz „Grenzerfahrungen, Gedanken auf dem Weg von Pommern nach Europa“. In der Beobachtung, dass wir Grenzen einerseits als weich und fließend betrachten, andererseits aber auch als einschneidend, scheint ein Widerspruch zu stecken. Doch liefert gerade dieser Widerspruch eine treffende Beschreibung unserer vielschichtigen, ja zum Teil zerklüfteten Erinnerungsgemeinschaft im Dreiländereck von Sachsen, Polen und Tschechien.

Zugleich schlägt dieser Widerspruch den Spannungsbogen zwischen der schmerzlichen Erfahrung der Vergangenheit auf der einen Seite und der Hoffnung auf eine Zukunft der weichen Grenzen auf der anderen Seite. Schließlich erwächst aus dieser so widersprüchlichen Grenz-Erfahrung die deutliche Aufforderung, Grenzen – in welcher Form auch immer – nicht nur hinzunehmen, sondern sie als Chance zu begreifen. Zum Beispiel als Chance zu erkennen, dass es neben den realen Grenzlinien und Grenzräumen auch solche gibt, die nur erinnert sind. Und zu erkennen, dass die Auseinandersetzung mit diesem Nebeneinander eine spannende Angelegenheit ist.

Ich will Ihnen diese Chance an einem Beispiel erläutern.
Es gibt eine ganze Generation von Sachsen, die aus Schlesien und Böhmen stammen. Sie sind nach dem zweiten Weltkrieg hierher gekommen. Ihre Enkel dagegen sind hier in der staatlichen Ordnung der Nachkriegszeit aufgewachsen.Dieser Enkelgeneration nun müssen wir die Chance geben, die Herkunftslandschaften ihrer Großeltern zu erkunden und Sprachgrenzen zu überschreiten. Ohne Kenntnisse der tschechischen und polnischen Sprache wird dies den jungen Leuten allerdings nicht hinreichend gelingen.

Ein Weg, ihnen bei Erkundungen in der Heimat ihrer Großeltern zu helfen, sind zweisprachige Schulen wie das tschechisch-deutsche Gymnasium in Pirna und das deutsch-polnische Gymnasium in Görlitz. Sprachkenntnisse helfen aber nicht nur bei Erkundungen in der Heimat der Vorfahren. Sie helfen auch, mit den realen Grenzen zu leben und sich über sie hinweg zu verständigen. Allerdings kann auch Mehrsprachigkeit diese Grenzen nicht abschaffen – daran haben auch Sie, Herr von Thadden, in Ihrem Aufsatz erinnert. Denn Sprache ist nie neutral, sondern markiert stets Unterschiede. Das erleben wir ja schon im eigenen Land mit dem sehr unterschiedlichen Prestige der Dialekte. Sächsisch galt bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts als feiner, nachahmenswerter Dialekt; heute macht man sich eher darüber lustig.

Hinzu kommt, dass Sprache die Wirklichkeit verschieden abbildet. Sie wissen vielleicht, dass wir für Schnee nur ein einziges Wort haben, die Inuit aber zwanzig verschiedene. Oder dass es im Tschechischen kein Wort für „Böhmen“ und „böhmisch“ gibt, anders als im Deutschen. Diese Demarkationsfunktion der Sprache steckt auch in dem Wort Grenze. Es ist eines der wenigen deutschen Wörter, die dem Westslawischen entlehnt sind. Ursprünglich hießen die Grenzgebiete des Frankenreiches Marken, so wie die Mark Meißen. Der Deutsche Orden übernahm jedoch im 13. Jahrhundert das polnische Wort granica, woraus dann Grenze wurde.

Die Wahrnehmung von Grenzen, oder allgemeiner: von Differenz, ist also sprachlich vermittelt. Doch zeigt das Beispiel der Schweiz, dass Sprachgrenzen nicht unbedingt nationale Grenzen sein müssen, und deshalb liegt im Erlernen unserer Nachbarsprachen tatsächlich eine große Chance. Vor allem aber können wir uns im Gespräch klar werden darüber, ob diese Grenzen denn tatsächlich etwas Einschneidendes sind, etwas das uns trennt – oder nicht doch eher eine breite Mark, ein fließender Übergang ist, der zwei gar nicht so verschiedene Völker voneinander trennt.
Oder richtiger: ich glaube, wir werden uns im Gespräch darüber klar werden, dass Grenzen eher einen Übergang als eine Zäsur darstellen. Oder noch besser: wir werden uns wieder darüber klar, dass die nationalen Grenzen nicht zugleich auch kulturelle Grenzen sind, anders, als es die großen nationalen Erzählungen des 19. Jahrhunderts behaupten.


Die Leitwissenschaften dieser nationalen Erzählungen waren Sprach- und Literaturwissenschaften ebenso wie Archäologie und Kunstgeschichte. Sie stellten sich in den Dienst des Nationalismus, dessen Behauptung, Kultur und Nationalstaat müssten kongruent und ethnisch rein sein, in die Tragödie des 20. Jahrhunderts führte. Hier in Europa konnte man dieses wissenschaftliche Selbstverständnis zuletzt noch einmal besichtigen, als Archäologen mithalfen, die Karten für ein „ethnisch reines“ Serbien zu zeichnen.
Von diesem Beispiel abgesehen, markiert das Jahr 1989 aber eine Zeitenwende auch für die Wissenschaft.

Aus politischer Parteilichkeit wurde unabhängige, pluralistische Wissenschaft, die sich wieder frei entfalten kann. Alle Geisteswissenschaften, insbesondere die Geschichtswissenschaft überwanden ihre dienende Funktion im ideologischen Konflikt und wurden – wie es der ehemalige polnische Botschafter Jerzy Kranz formuliert hat – selbst wieder Geschichte.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Mitteldeutsche Braunkohle AG mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Bruce de Marcus entschlossen, den Prozess der Selbstreflexion durch die Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae nachhaltig zu unterstützen. Das ist eine, wie ich finde, wegweisende Entscheidung. Denn wenn das vereinte Europa nicht nur der größte Binnenmarkt der Welt sein will, sondern auch ein politisches Projekt, dann muss es sich über seine Herkunft im klaren sein. Ohne Zukunft gibt es nämlich keine Herkunft.
Herkunft meint dabei nicht allein die allen Europäern gemeinsame christlich-abendländische Kultur. Herkunft heißt auch, dass wir uns zu unserer nationalen Geschichte und Kultur bekennen, ohne Minderwertigkeitskomplexe oder Überheblichkeit.

Mancher nationalstaatsmüde Deutsche möchte heute nur noch die Gemeinsamkeiten sehen und alle Unterschiede vergessen oder gar als bösartige Erfindung abtun. So verständlich diese Haltung angesichts der Verheerungen ist, die der Nationalismus in Europa angerichtet hat: Sie ignoriert, dass Identität Grenzen braucht, weil ihr sonst der Halt und die Form fehlen. Vor allem ignoriert diese Haltung das Motto der EU: in varietate concordia – in Vielfalt geeint. Damit ist ja nicht eine europäische Multikulti-Gesellschaft gemeint, sondern die Vielfalt nationaler Kulturen und nationaler Erinnerungsgemeinschaften. Diese Vielfalt kann man nicht durch eine internationalistische Beliebigkeit ersetzen, ohne Europa aufzugeben.

Dennoch entsteht Identität nicht allein aus uns selbst oder aus unserer Kultur, sondern auch aus dem Blick auf das Fremde. Daher ist es nur konsequent, dass die Stiftung „Pro Archäologia Saxoniae“ sich die Förderung der internationalen Archäologie im Dreiländereck auf die Fahnen geschrieben hat.
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle zwei Jahre vier Wissenschaftler auszuzeichnen, die auf diesem Gebiet hervorragende Arbeit geleistet haben. Erstmalig in diesem Jahr vergibt sie den Werner-Coblenz-Preis, das Gerhard-Bersu-Stipendium sowie einen Sonderpreis.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich noch einmal bei der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae sowie bei dem Stifter, der Mitteldeutschen Braunkohle AG, für ihr Engagement zu bedanken.
Ich darf nun zunächst die Preisträger des Werner-Coblenz-Preises nach vorn zu mir bitten, Dr. Slawomir Mozdzioch und Dr. Dirk Scheidemantel. Die Laudatoren Dr. Jan Klapste und Prof. Zbigniew Kobylinski bitte ich an ihre Rednerpulte.

FESTREDE ANLÄSSLICH DER PREISVERLEIHUNG DER STIFTUNG PRO ARCHAEOLOGIA SAXONIAE 2006/2007 von Dr. Krzysztof Wojciechowski Collegium Polonicum Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

DEUTSCHE UND POLNISCHE ARCHÄOLOGEN IN KOMMUNIZIERENDEN RÖHREN.

EIN BEITRAG ZUR ANALYSE DES GLOBALEN UNWETTERS.

Sehr geehrte Frau Coblenz,

Sehr geehrte Vertreter des diplomatischen Corps,

Sehr geehrte Vertreter der Stiftung Pro Archaeologia Saxoniae und der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft,

Sehr geehrte Professorinnen und Professoren,

Liebe Preisträgerinnen,

Meine sehr verehrten Damen und Herren.          

Der Sommer 1969 ist mir sehr stark in Erinnerung geblieben. Ich war damals dreizehn Jahre alt und begann die ersten Freiheiten eines Teenagers zu genießen. Nichtsdestotrotz haben mir meine Eltern einen Aufenthalt in einem Ferienlager im noblen Erholungsort unweit von Warschau, Podkowa Le¶na, besorgt. Nachdem ich mich richtig erholt habe, meinten sie, dürfte ich auf eigene Faust zelten fahren. Ich verbrachte also den Monat Juli mit anderen Jugendlichen in einer großen Villa aus der Zwischenkriegszeit, die in einem wunderschönen Garten gelegen war. Alle diese Jugendlichen waren Mädchen! Dank meines Onkels, der die Buchhaltung bei diesem Ferienlager geführt hat, konnte ich als einziger Junge einen Monat in einer Gruppe von 30 Mädchen verbringen. An drei Dinge aus dieser Zeit kann ich mich allzu gut erinnern. Das erste war die Fernsehübertragung der ersten Landung des Menschen auf dem Mond. Mit eigenen Augen habe ich den kleinen Schritt Neil Armstrongs gesehen, der zum großen Sprung für die Menschheit geworden ist. Wenn ich heute die Verschwörungstheorien lese, dass diese Aufnahmen vor der Expedition im Filmstudio gemacht worden seien, wovon tatsächlich sichtbare, unterschiedlich fallende Schatten der Masten und Menschen zeugen sollen, habe ich den Eindruck, dass man mich eines Stücks meines jugendlichen Idealismus berauben will. Mögen doch die Aufnahmen authentisch sein! Genauso authentisch wie der erste Kuss in meinem Leben, den ich einem Mädchen in dem wunderschönen Garten abgetrotzt habe... Das ist ein Thema für eine andere Story, aber eines muss ich noch erwähnen: den Besuch bei Professor Kazimierz Micha³owski. In derselben Straße, einige Hundert Meter weiter, auch in einer schönen Villa, hatte die Polnische Akademie der Wissenschaften das sog. „Haus der schöpferischen Arbeit“. Eine unserer Erzieherinnen hatte ausfindig gemacht, dass sich dort der legendäre polnische Archäologe zur Erholung aufhielt. Der Professor war einverstanden, unsere Gruppe zu empfangen und so verbrachten wir eine gute Stunde in seinem schattigen Kabinett und plauderten mit diesem weißhaarigen Mann mit aristokratischen Gesichtszügen über Archäologie und seine Arbeit. Die Fragen, die die Mädchen und auch ich stellten, würden die Erzieher der heutigen 13-jährigen Teenies absolut verwundern. Wir wussten vom Assuan-Staudamm in Ägypten, wir hatten gehört, dass der lange Nassersee, den unter dem Pharao Ramses II. erbauten Tempelkomplex bedroht, und dass Professor Micha³owski beschlossen hatte, den großen Tempel des Sonnengottes Amun-Re in Stücke zu zerschneiden und ihn auf einem Hügel, oberhalb des zukünftigen Wasserpegels wiederaufzubauen. Außerdem wussten wir auch, dass Professor Micha³owski so nebenbei in den Pausen bei den Bauarbeiten Ausflüge in den Sudan gemacht und dort den Tempel des Totmes III. und eine koptische Kathedrale in Faras entdeckt hatte. Die Überführung der Fresken aus dieser Kathedrale und ihre Ausstellung im Nationalmuseum in Warschau war beinahe ein nationaler Festakt, an dem ich und meine Eltern natürlich teilnahmen. Ja, Professor Micha³owski war einer der größten Archäologen der Welt. Die ganze Welt kannte ihn und bewunderte uns Polen sehr. Dieser Tatsache waren wir uns sicher.

Tja... Die Theoretiker der Kultur sprechen heute viel von den Verhaltensmustern und den Paradigmen des Wissens, welche uns die Kultur vermittelt, von der identitätsstiftenden Funktion von Geschichten, die die Kultur pflegt und weitergibt, aber nur wenige sprechen von einer simplen Eigenschaft der Kultur, welche dieses soziale Phänomen mit einigen chemischen Substanzen wie z.B. Alkohol oder Drogen teilt. Die Kultur steigert bei den Mitgliedern einer Gemeinschaft den Pegel des Selbstwertgefühls. Angesichts der Artefakte, kulturellen Objekte und Aktivitäten, die Wissenschaft eingeschlossen, verspürt der individuelle Mensch einen Schub an Selbstsicherheit, an positiver Empfindung der eigenen Existenz und der Umgebung und einen Zufluss vitaler Kräften. Das Selbstwertgefühl ist das beste Vitamin für den Geist und auch für den Körper. Fast alles, was wir tun, von der Elternliebe über Konsum, Erotik, Politik, Religion und soziale Institutionen hat vorwiegend mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Wir denken darüber nicht nach, aber wir pflegen dieses Gefühl in unzähligen Akten von morgens bis abends.

Woraus hätten die Polen in den 60er Jahren ihr Selbstwertgefühl schöpfen sollen? Das Land lag noch weitgehend in den Trümmern des 2. Weltkrieges. Auf den ersten Modernisierungsschub sollte es noch einige Jahre warten. Das Zentrum von Warschau war eine Halbwüste mit emporragenden Überresten der Vorkriegsbebauung. Die westlichen Journalisten photographierten in Warschau mit Vorliebe die Pferdekarren und den stalinistischen Kulturpalast im Hintergrund, was mich, meine Eltern, alle Freunde und Verwandten zur Weißglut brachte. Wir wollten einfach nicht zu Kenntnis nehmen, dass wir ein armes, rückständiges Agrarland waren. Wir brauchten etwas, was uns betäubt, den Existenzschmerz lindert und etwas Farbe, sprich: Wert, in den Alltag bringt. Wir brauchten staatliche Propaganda, oder auch Radio Freies Europa, Sport, Religion, Kultur, wir brauchten die polnische Archäologie, den außergewöhnlichen Professor Micha³owski und leider auch den ganz gewöhnlichen Wodka.

Der erste wesentliche Modernisierungsschub kam zu Beginn der 70er Jahre. Die damalige Staatsführung beschloss das Land gen Westen und auch gen andere Länder des Ostblocks zu öffnen. Ich nutzte diese politische Wende so gut ich konnte. Jedes Jahr bereiste ich ein Stück Europas und später der Welt. Aber die erste Reise führte 1972 in die DDR. Per Anhalter befuhr ich die ganze Republik, besuchte die Städte, Museen und Galerien und schloss auch Freundschaften. Hier in Dresden lernte ich die Familie Meurers kennen, die Mutter nahm mich mit ihrem Trabi auf der Landstraße mit und da ich vermutlich hungrig aussah, lud sie mich gleich zum Essen nach Hause ein. Zu der Tochter, Heidi, pflege ich bis heute mehrweniger intensiv Kontakt. In der Dresdner Galerie sah ich Kunstschätze, von denen das Polnische Nationalmuseum nur träumen könnte und auch die Kronjuwelen der polnischen Könige, die viel kostbarer waren, als das, was in den Schatzkammern in Krakau oder in Warschau aufbewahrt wurde. Die Reise endete in Berlin mit dem Besuch des Pergamonmuseums. Von den dortigen ägyptischen Sammlungen war ich überwältigt. Und ich litt gleichzeitig. Was war schon die Sammlung der Fresken von Faras im Vergleich zu dem gewaltigen Pergamonaltar, zum babylonischen Ischtar-Tor und der Prozessionsstraße ? Mein in den 60er Jahren, in meiner frühen Jugend angestautes, auf den Leistungen der polnischen Archäologie aufgebautes Selbstverständnis und Selbstwertgefühl sank, wie der Wasserpegel eines hochgelegenen Sees, der plötzlich durch eine Röhre mit einem tiefer gelegenen, größeren See verbunden wird. Dann kamen meine weiteren Reisen, unter anderem nach Kleinasien und Griechenland. Ich besichtigte Troja und las über Schliemanns Entdeckungen, ich erfuhr von der Existenz des „Schatzes des Priamos“, im türkischen Bergama konnte ich die Leistungen von Carl Humann und Theodor Wiegand kennen lernen. Weitere Lektüren und spätere Besuche in Berliner Museen vergegenwärtigten mir die Bedeutung von Heinrich Brugsch und Ludwig Borchardt. Im Laufe der Jahre gewann ich ein einigermaßen objektives Bild der Leistungen der nationalen Schulen der Archäologie in Europa. Die polnischen Leistungen sahen längst nicht so glänzend aus. Oder noch deutlicher gesagt: sie waren recht bescheiden. Nichtsdestotrotz pflegte ich die Hoffnung, dass die Verlegung der Tempel in Abu Simbel ein ewiges Denkmal des polnischen Beitrages zum Weltkulturerbe sein würde.

Vor kurzem stieß ich in einem deutschsprachigen Text auf die Beschreibung der Rettungsarbeiten an Tempeln des Ramses II. in Abu Simbel. Es hieß: „Beim Bau des Assuan-Hochdamms drohten beide Tempel in den Fluten des Nassersees zu versinken. Daher wurden sie zwischen 1964 und 1968, unter Leitung von Ingenieuren des deutschen Bauunternehmens Hochtief, in 1.036 Einzelteile zerschnitten und anschließend 180 m landeinwärts sowie 64 m über dem alten Standort wieder aufgebaut“. Moment mal! Ich hatte geglaubt, nicht die deutschen Ingenieure vom Bauunternehmen Hochtief sondern der polnische Professor habe die Tempel gerettet! Ein deutscher Autor sieht das anders! Also doch: Die Spiele um das Selbstwertgefühl betreiben wir alle: Polen und Deutsche, Einzelpersonen, Gruppen, Regierungen, Firmen, Staaten, Kulturen und Religionen. Wir betreiben sie bewusst, unbewusst, halbbewusst oder unterbewusst. Die Fakten des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Wissenschaft und der Technologie werden so dargestellt, dass sie möglichst viel Wert ausstrahlen und dass der Darstellende und seine Gemeinschaft möglichst viel von diesem Licht abbekommen. Offensichtlich hat dieses Bestreben seinen Ursprung in der Evolution. Wir alle sind Herdentiere und unser Wohlergehen, das heißt der Zugang zu allen möglichen Ressourcen hängt von unserem Stellenwert auf der Hierarchieleiter der Herde ab. Durch Rückkopplung der Position und des Selbstwertgefühls entsteht der Eindruck, dass je höher das Selbstwertgefühl, desto besser unsere tatsächliche Lage. In diesem Sinne produzieren wir, biologische Wesen, ständig Kultur, Wissenschaft, Religion und die mediale Sphäre, um unterbrochen in einer mehr oder weniger dichten, wohltuenden Illusion zu verweilen. Leider gibt es in einer Herde nur eine begrenzte Zahl Plätze auf jeder Stufe. Und um diese Plätze herrscht ein ständiger Konkurrenzkampf. Die Evolution hat uns mit einem Sinn ausgestattet, der ständig unsere Lage und die der anderen abcheckt. Wo bin ich? Steige ich auf oder rutsche ich hinunter? Bin ich besser oder bin ich schlechter? Wo sind die anderen? Steigen sie auf, um mich automatisch zu degradieren oder rutschen sie runter um mich aufsteigen zu lassen? Dank dieses Sinnes entsteht um uns herum ein tausendfaches System kommunizierender Röhren, in denen goldene Flüssigkeit hin und her fließt. Flüssigkeit, die zwar keinen substanziellen Charakter hat, sich aber in Vitalität und Energie verwandelt so, wie Wasser oder Benzin .

Der simpelste Zusammenhang zwischen zwei Enden einer Röhre ist der, dass die Senkung des Pegels der Flüssigkeit am anderen Ende den Anstieg an meinem Ende bedeutet. Die Abwertung des anderen steigert unser Selbstwertgefühl. Diesen Mechanismus bedienen wir hundertfach jeden Tag. Am Morgen, in der Eile können wir den Autoschlüssel nicht finden. Wir werden nervös und unsicher. „Liebling, welcher Idiot hat schon wieder den Autoschlüssel versteckt?“ - fragen wir nett unsere Partnerin oder den Partner. Eine kleine Schuldzuweisung an eine andere Person und unser Selbstwertgefühl steigt schon ein bisschen. „Liebling, guck doch in den Spiegel, dann siehst du den Idioten!“ – antwortet genauso nett unsere Partnerin oder Partner. Und das Selbstwertgefühl scheint sich wieder einzupegeln, was uns zugänglicher, kooperativer und offener macht. Vorausgesetzt wir wissen, wann man das Spiel abbrechen soll. Tun es die Staaten anders? Ach wo! Die Staaten mit ihren Spielchen um das Selbstwertgefühl verhalten sich wie unmündige Menschen. Die Simplizität und Infantilität der Mittel verblüfft immer wieder. Um Russland, den ewigen moralischen Feind zu demütigen, engagiert sich Polen sehr stark für die Unterstützung der orangefarbenen Revolution in der Ukraine. Russland rächt sich mit einem Einfuhrverbot für Fleisch aus Polen. Polen dagegen blockiert die Gespräche der Europäischen Union mit Russland über die strategische Partnerschaft. Russland erwägt dagegen ein Einfuhrverbot von allen pflanzlichen Produkten aus dem Nachbarland. Es ist ein Spiel, bei dem die Vernunft schläft. Das verseuchte Fleisch, welches den Vorwand zum Einfuhrverbot gab, stammte gar nicht aus Polen. Das wissen alle. Und das Blockieren der Verhandlungen mit Russland gefährdet essenzielle polnische Interessen. Aber der Drang nach dem wertemäßigem Aufbau des kollektiven Egos ist stärker als alle rationalen Argumente. Und wie steht es mit den Ego-Spielen zwischen Deutschland und Polen, was tut sich hier in kommunizierenden Röhren?

In den Jahren 1991 bis 2004, das heißt bis zum Beitritt Polens zur EU, herrschte in beiden Ländern die Meinung, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen seien in den letzten 1000 Jahren noch nie so gut gewesen. Die beiden Partner brauchten sich gegenseitig. Für die Polen war Deutschland der Botschafter der polnischen Sache bei der EU, für die Deutschen war der Beitritt Polens die Chance, aus einem Problemfall hinter der östlichen Grenze ein stabiles, demokratisches, einigermaßen wohlständiges und in die Mechanismen der EU gebundenes Land zu machen. Beide Seiten werteten sich gegenseitig auf. Die Polen lobten die Deutschen als wahre Europäer und menschliche Nachbarn, die Deutschen lobten Polen als Wirtschaftstiger Osteuropas und als ein Land, welches mit seinem Kampf gegen Totalitarismus zum Fall der Mauer beigetragen hatte. Die deutsch-polnischen Beziehungen galten als Muster der Versöhnung nach dem Albtraum der Geschichte.

Zu einer kleinen Verstimmung kam es im Jahr 2003. Als im Frühjahr die polnische Regierung erklärte, sie möchte sich als drittstärkste Kraft bei der Invasion in den Irak beteiligen, ging eine Welle Empörung durch die deutsche und zum Teil auch durch die französische Presse. „Trojanischer Esel Europas“ nannten einige Journalisten Polen, und das einfache Volk in Deutschland spendete Beifall. Diese stark herabwertende Bezeichnung zeigt eindeutig, worum es ging: Polen hatte nach dem Status eines Global Players gegriffen, welcher diesem ärmlichen Land gar nicht zusteht. Dann müsste dieses Land verbal in die Schranken verwiesen werden. Selbstverständlicherweise erntete Spanien, welches viel aktiver bei der Vorbereitung des Irakkrieges war und mit fast der gleichen Zahl Soldaten beteiligt war, weder Spott noch ernsthafte Kritik. Man kann die Sache hundertfach interpretieren, auch von der polnischen Seite. Aber selbst bei den Polen ging es offensichtlich um das Selbstwertgefühl. Und zwar das der regierenden Elite. Global Player zu sein ist doch ein berauschendes Gefühl, selbst wenn 80% der eigenen Bevölkerung gegen die Teilnahme an der abenteuerlichen Aktion waren.

Dann kam der Mai 2004 und der polnische Traum ging in Erfüllung. Wir wurden Mitglied der EU, wir haben endlich „in der ersten Liga gespielt“ (so der damalige Präsident Polens, Kwasniewski). Kaum aber war die Beitrittsparty zu Ende, beschloss im September 2004 das polnische Parlament nur mit einer Stimme Enthaltung die Forderung nach Reparationszahlungen von Deutschland für den Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Regierung und die deutsche Öffentlichkeit waren absolut irritiert. Kriegsreparationen, 60 Jahre nach dem Krieg, nach dem Beitritt zur EU? Was soll das Ganze bedeuten?

Ich hatte die seltene Gelegenheit, den politischen Gesprächen beizuwohnen, die diese gewaltigen deutsch-polnischen Spannungen abbauen sollten. Im November 2004 trafen bei mir, im Hause, im Collegium Polonicum, der gemeinsamen Einrichtung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/(O) und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan, die Präsidien des Sejm und des Bundestages zusammen. „Warum tut ihr das? Wir sind völlig irritiert!“ – war der Tenor der Ansprache von Wolfgang Thierse. „Wir konnten nicht anders. Die ganze Nation schaute auf uns“ – erwiderte Jozef Oleksy. Und zwischen den Zeilen konnte man wiederum lesen: SELBSTWERTGEFÜHL. In den Augen der Polen, ändere Deutschland radikal seine bisherige Politik gegenüber dem Nachbarland. Die Kritik wegen des Irakkrieges demütige Polen. Die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen solle die neue deutsche Geschichtsauffassung anbahnen. Die Deutschen seien nicht mehr Täter sondern ab jetzt Opfer. Die Vertriebenenverbände unter Anführung einer aggressiven jungen Dame, Frau Steinbach, erheben das Haupt. Und das Schlimmste: die Preußische Treuhand erhebe den Anspruch auf ein Drittel des polnischen Territoriums. Was tue die Bundesregierung? Nichts. So wie damals in der Weimarer Republik schaue sie tatenlos dem aufsteigenden Bösen zu.

Diese Formulierungen sind zwar nie in dieser krassen Form gefallen, aber das Präsidium des polnischen Sejm äußerte sich eindeutig: „so sehen die polnische Presse und das polnische Volk die Dinge. Wir mussten entschlossen reagieren und Stärke zeigen. Von euch verlangen wir: tretet diesen Tendenzen entschlossen entgegen und übernehmt Haftung für die Forderungen der Preußischen Treuhand“. Vergeblich versuchte die deutsche Delegation die Dinge herunterzuspielen sprich abzuwerten: „die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen ist eine von vielen Diskussionen in einer demokratischen Gesellschaft. Sie widerspiegelt auf keinen Fall die Haltung der Bundesregierung. Außerdem seien die Polen zum Mitdiskutieren und Mitmachen herzlich eingeladen. Wer ist schon Frau Steinbach? Politisch gesehen – ein Niemand! Preußische Treuhand? Ein paar Verrückte, die nicht einmal einen Anwalt finden können! Eine absolute Randerscheinung einer pluralistischen Gesellschaft, die keiner kennt und die null Einfluss auf die Politik hat!“

Ich weiß nicht mehr, wie man auseinander gegangen ist. Vermutlich hat man beschlossen, weitere Konsultationen durchzuführen. Aber die Meinungsunterschiede blieben unausgeräumt. Und so sind sie es bis heute. Die Wahl der neuen Regierung hat sie sogar verschärft. In den Augen der Deutschen provozieren die Zwillingsbrüder Kaczynski und ihre Koalitionspartner immer wieder neue – zwar kleine aber doch spürbare – Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis. Ihre Vorwürfe sind irrational. Ihre Forderungen – unrealistisch. Warum tun sie das?

Wir wollen natürlich die vielfältige und vielschichtige deutsch-polnische Realität unter dem Aspekt des Spiels um das kollektive Selbstwertgefühl analysieren. Ein Motiv dürfen wir aber nicht verfolgen. Es ist eine psychoanalytische Beobachtung, dass kleine Menschen sehr oft unter Minderwertigkeitskomplexen leiden und diese mit oft auffälligen und für die Gemeinschaft nicht immer konstruktiven Aktivitäten kompensieren. Hier ist der Tiefenpsychologe gefragt und außerdem vertreten wir die altmodische Meinung, dass den obersten Trägern der Staatswürden der entsprechende Respekt gebührt. Sonst lautet unsere Diagnose so:

Der EU-Beitritt Polens ist nur eine symbolische Zäsur in einem Prozess, der Mittelosteuropa nach dem Fall des realen Sozialismus erfasst hat. Wir nennen ihn „Europäisierung“ und halten ihn für nichts anderes als eine lokale Variante der Globalisierung. Infolge dieses Prozesses wurde die polnische Gesellschaft gespalten. Ungefähr die Hälfte erlebte einen Aufstieg in bisher unbekannte Regionen. Die Reallöhne stiegen um ein Vielfaches. Die Möglichkeiten das Leben zu entfalten wurden enorm, die politische Freiheit zeigte ihre schönen Seiten. Ungefähr die Hälfte der polnischen Gesellschaft erreichte den Lebensstandard der westeuropäischen Mittelklasse und wurde europäisch, liberal, offen und kooperativ. Aber die Hälfte ereilte ein anderes Schicksal: Selbst wenn die Läden voll sind, können sie sich mit ihren Hilfsarbeiterlöhnen, Renten oder Arbeitslosenunterstützung wenig leisten. Das soziale Klima ist für sie kalt geworden. Ihre Spielräume wurden eingeengt. Die vertrauten Kulissen ihres Lebens (patriotische Zeremonien, Mythen über Heldentum aller Polen und die aus dem Kommunismus überlieferte Überzeugung, ein einfacher Mensch sei das Salz dieser Erde) geraten unter dem Druck der globalen, medialen Realität ins Wanken. Selbst die Zeit der neuen Realität läuft so schnell, dass man kaum bemerkt, was die Bilder und die Worte bedeuten. Und wie sieht die Zukunft aus? Ohne Fremdsprachenkenntnisse, ohne berufliche Qualifizierung und ohne Kraftreserven – sehr düster. Diese Menschen erlitten trotz des rasanten zivilisatorischen Fortschritts Polens einen gewaltigen Zusammenbruch des Selbstwertgefühls. Was das bedeutet, brauche ich hier, in einem neuen deutschen Bundesland, nicht zu erzählen. Selbst hier, wo der materielle Fortschritt in den letzten 15 Jahren immens war, kennt man allzu gut das Gefühl ausgegrenzt zu sein, nicht gebraucht zu werden, und ungerechterweise des Lebenssinns beraubt zu werden. Das Gefühl der Demütigung hat überraschende Facetten. Selbst eine edle, gerechte und wohltuende Handlung, durchgeführt mit fremden Händen, beraubt einen des Selbstwertgefühls. Als ich 2004 im Collegium Polonicum einmal Kurt Biederkopf fragte, was er nach der Wende hätte anders machen sollen, antwortete er: "Ich hätte meinen ostdeutschen Landsleuten das Gefühl verleihen müssen, selbst die Verantwortung für ihr Schicksal zu tragen".

Im Juni 2006 führte das bekannte National Opinion Research Center an der Universität von Chicago eine Studie durch, in der 34 ausgewählte Nationen auf ihren Nationalstolz (sprich: Selbstwertgefühl) geprüft wurden. Den ersten Platz belegte wer? Natürlich die USA! Auf dem vorletzten Platz rangierten wir, Polen, was ein überraschend schlechtes Ergebnis war. Das Einzige, worauf wir einigermaßen stolz waren, waren polnische Militäreinsätze im Ausland. An letzter Stelle rangierte... wer? Die ehemalige DDR, das heißt die neuen Bundesländer. Ja, meine Damen und Herren, wir sind wirklich im Zentrum eines bedürftigen Gebietes!

Es gibt also Millionen Polen, die durch den historischen Prozess in der Tiefe ihrer Seele Verluste an Selbstwertgefühl erlitten haben. Was tut ein Mensch in solch einer Situation? Das wissen wir schon: er wertet sich selbst auf oder andere ab. Die Selbstaufwertung der Massen liegt auf der Hand: Anstieg an Nationalismus, religiösen Gefühlen, historisch bewerteten Verhaltensschemata (Heldentum, rebellische Haltung, Anecken bei stärkeren Nachbarn), nostalgische Forderungen (in Polen wird die par excellence kommunistische Forderung nach hohen Mindestlöhnen, sozialer Sicherheit und der starken Hand des Staates mit – im Gegensatz zu den neuen Bundesländern – antikommunistischen Symbolen ausgeschmückt, zum Beispiel mit dem Symbol der Solidarnosc. Daraus wird die Idee des „solidarischen Staates“ geschmiedet – eine der politischen Losungen der regierenden Partei. Die Abwertung der anderen vollzieht sich im Innen- und im Außenverhältnis. Nach innen jagt man Homosexuelle, Kollaborateure des damaligen kommunistischen Staates, Liberale und Verräter aller Couleur. Nach außen jagt man – wie immer – die Nachbarn. Spezifisch auf Deutschland bezogen hat dieses aus den Tiefen der kollektiven Seele bei einem Teil der polnischen Gesellschaft aufsteigende Ressentiment zwei weitere wichtige Aspekte. Es sind die Asymmetrie und die Umbruchstendenzen.

Die Asymmetrie... Versuchen Sie sich beim Kaffeetrinken auf dem Sofa neben einen Menschen zu setzen, der vier Meter groß ist, 300 Kilo wiegt und auf Sie aus beängstigender Höhe herabschaut. Selbst wenn er ein Engel ist, werden Sie sich nicht auf nette Plaudereien beschränken können. Mit Ihrem ganzen Wesen werden Sie sich nur auf einen Gedanken konzentrieren: wird mich der Typ auch nicht zerquetschen? Wird er mir nicht mit einer unkontrollierten Bewegung die Kaffeetasse aus der Hand schlagen, wird er nicht beim Umschlagen der Beine den ganzen Tisch umwerfen? Bei einer Nachbarschaft, die durch eklatant asymmetrische Potentiale gekennzeichnet ist, tendiert der kleinere zu hysterischen Reaktionen, zur Überschätzung der Gefahren, die von dem Größeren ausgehen und zu dem ständigen Gefühl, ignoriert, unterschätzt oder gedemütigt zu werden. Asymmetrische Völkerpaare sind aus der Weltgeschichte, selbst aus der Gegenwart sehr gut bekannt: Amerika und Mexiko, Großbritannien und Irland, Polen und Litauen, Serbien und Bosnien, Russland und das Baltikum usw. Der Größere hat dabei den psychischen Komfort: die eigene Überlegenheit fällt gar nicht auf, sie wird sogar durch ihn als Normalzustand empfunden.

Als Normalzustand wird auch die innere Verwandlung empfunden. Das durch relative Schwäche und gewisse Minderwertigkeitskomplexe sensibilisierte polnische Ohr hört im inneren der deutschen Identität Töne, die anders klingen als in den letzten 60 Jahren. Der Schock des 2. Weltkrieges und die Gräueltaten der Nazis versetzten nach dem 2. Weltkrieg große Teile der deutschen Elite in einen spezifischen geistigen Zustand. Die Quintessenz dieses Zustandes war ein permanentes Schuldbekenntnis und – nach außen – der Verzicht auf den Status, der einem wirtschaftlich mächtigen sowie kulturell erstklassigen europäischen Land zustehen würde. Die Publizisten bezeichneten die Bonner Republik mit einer ambivalenten Bezeichnung „Wirtschaftsriese – politischer Zwerg“. Deutschland verweilte 50 Jahre lang freiwillig in geduckter Stellung, was vermutlich ein Glücksfall für die europäische Entwicklung war. Das größte europäische Land reduzierte sich künstlich auf ein Maß, welches eine harmonische Teamarbeit gewährleisten konnte. Die Prozesse im Osten Deutschlands verliefen ähnlich, obwohl sie hinter anderen Facetten versteckt waren. Die wohltuende Wirkung des freiwilligen – und nicht nur freiwilligen Verzichts auf hohen Status bzw. das Einverständnis mit der Reduktion, das durch andere oktroyiert wurde, liegt wiederum im Bereich der kommunizierenden Gefäße des Selbstwertgefühls. Die negative Korrelation des Pegels des Selbstwertgefühls in kommunizierenden Gefäßen (ich werte den anderen ab um mich aufzuwerten, er reagiert ebenso und ein Konflikt schaukelt sich von alleine hoch), ist nämlich nicht das einzige Mögliche. Die Evolution hat den in hierarchischen Strukturen lebenden Wesen ein Instrument gegeben, mit dem sie sehr schnell Konflikte beilegen können. Es reicht, wenn sie ein Signal geben, sie verzichten auf den Anspruch auf eine höhere Position in der Hierarchie. Dieses Signal kann ganz simpel sein. Zum Beispiel sich körperlich etwas kleiner machen. Wenn man einem Menschen begegnet, dann  – um ihn positiv das heißt friedlich und kooperativ zu stimmen – macht man sich für eine Sekunde einfach kleiner. Man nennt das „Begrüßung“. Unser Alltag ist voll von verschiedenen Selbstabwertungsritualen, die als Zeichen der Demut, der Reue, des Schuldbekenntnisses oder einfach als Elemente einer sympathischen und umgänglichen Persönlichkeit fungieren. Und all diese Zeichen und Rituale haben eine große Wirkungskraft. Jemand, der auf das Diktum „Liebling, welcher Idiot hat den Autoschlüssel versteckt?“ mit den Worten antwortet „Schatzi, kann sein, dass ich es war. Sei mir bitte nicht böse, ich helfe dir gleich zu suchen“ wird bestimmt mit der Umstimmung des Partners rechnen können. Wenn der Schlüssel gefunden ist, wird er bestimmt zu hören bekommen „Danke, Liebling. Es tut mir leid. Ich bin heute irgendwie gereizt...“.

Tjaa... „Mit dem Hut in der Hand kommt man durchs ganze Land“. Auch durch ganz Europa. Allerdings unter einer Bedingung: dass das Reservoir, aus dem man freiwillig die goldene Flüssigkeit ablässt, genug Vorräte hat. Nur souveräne, innerlich stabile und selbstsichere Personen (oder Staaten) können frei mit Selbstaufwertungsmechanismen umgehen. Auch Personen oder Staaten, die Kompensationsmechanismen entwickelt haben. Deutschland verlagerte nach dem 2. Weltkrieg die Quellen des Selbstwertgefühls aus traditionellen Bereichen wie Symbole, eigene Geschichte, militärische Macht und politische Bedeutung in Ersatzbereiche, wie materieller Wohlstand, soziale Marktwirtschaft, föderative Struktur oder Umweltbewusstsein. Alles lief gut, solange die in den 50er und 60er Jahren angesammelten Finanzpolster jeden eventuellen Stolperschritt in diesen Bereichen abfederten. Aber – das wissen wir alle – „die fetten Jahre sind vorbei“. Das kollektive Wesen „Deutschland“ beginnt unterbewusst nach alternativen Quellen des Selbstwertgefühls zu suchen. Es greift zu erprobten Mitteln wie Symbole, militärische Präsenz oder... das eigene Leiden. Warum das Leiden bei Menschen - im Gegenteil zu allen anderen Lebewesen - die Quelle des Selbstwertgefühls ist, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Aber es ist eine Tatsache. Die späte Aufmerksamkeit, geschenkt den Opfern der englischen und amerikanischen Bombardements der Städte, das Mitgefühl mit den Vertriebenen und die vorsichtige Wiederentdeckung des Patriotismus in den Fußballstadien sind nichts anderes als Kompensation für Harz IV, Pisa-Studie und Abwanderung von Arbeitsplätzen.

Und es ist auch gut so. Deutschland hat das Recht nicht nur mit sich selbst zufrieden, sondern auch auf sich selbst stolz zu sein. Wir wollen ein stabiles, kooperatives und europäisch gesonnenes Deutschland. Und solch ein Deutschland muss das entsprechende Reservoir an Selbstwertgefühl haben. Sonst ist es nicht in der Lage nachhaltig das in Europa zentral gelegene Netzwerk von kommunizierenden Gefäßen zu gestalten. Das müssen wir Polen begreifen.

Die Kostprobe dieses wohltuenden Handwerks in deutscher Ausführung hatten wir vor einigen Tagen. Die Bundeskanzlerin zog während ihres Aufenthaltes in Polen alle Register der edlen Klempnerei. Sie wertete die polnischen Nachbarn auf, sie wiederholte auch alle traditionellen deutschen Rituale der Demut. „So viele  freundliche Gesten unserem Land gegenüber hat noch kein deutscher Kanzler getan“ schrieb die größte polnische Zeitung auf der ersten Seite. Ja, Hut ab vor der geduldigen und geschickten Politik der deutschen Regierung.

Ob diese Politik nicht nur technisch perfekt, sondern auch klug ist und au innerer Überzeugung kommt, wird sich noch zeigen. Nur aus innerer Überzeugung herrührende Verzicht auf eine protektionistische Haltung (die viele Deutschen mit Hilfs- und Kooperationsbereitschaft verwechseln), nur eine Anerkennung der wirtschaftlich schwächeren Partner als vollwertige Subjekte der europäischen Politik, werden nachhaltig stabile Verhältnisse in der zentralen Region Europas schaffen. Ob Andersdenkende zu trojanischen Eseln oder zu Zugpferden kreiert werden, hängt weitgehend von uns selbst ab.

Jetzt müssen wir eine schwierige Frage stellen: haben wir Polen genug innere Stärke und Souveränität um ab und zu „Verzeihung“ zu sagen, eigene Fehler zuzugeben oder einem größeren Nachbarn einen Schub an Selbstwertgefühl zu gönnen? Damals, als Prof. Michalowski noch der größte Archeologe der Welt war, war ich der moralischen Größe der polnischen Nation sicher. Der freiwillige Zusammenschluss Polens und Litauens im 15. Jh., die Toleranz in der Adelsrepublik des 16-18 Jh., die Rechte der Minderheiten in Polen  in der Zwischenkriegszeit – davon habe ich in der Schule lelernt. Über den Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965 mit den Worten „Wir verzeihen und bitten um Verzeihung“ und über den milden und toleranten polnischen Kommunismus  sprach ich mit meinen Eltern zu Hause. Den Runden Tisch von 1989, an dem die polnischen Oppositionellen gemeinsam mit denjenigen, die sie noch vor einigen Jahren in Gefängnisse steckten, das Fundament für die demokratische Zukunft legten, hielt ich für das historische Aushängeschild des freien Polens und den Prüfstein für moralische Stärke meines Volkes. Heute, nach 15 Jahren, erlebe ich in meinem Land mehr oder weniger sichtbare Anzeichen des Nationalismus, Xenophobie, Hasses gegen homosexuelle und Juden… Es werden großangelegte Jagten auf Verbrecher, vermeintliche Verräter und Feinde der Nation organisiert. Ich höre Töne, die ich zeitlebens in meinem Lande nie gehört habe. Es gurgelt richtig in den kommunizierenden Röhren. Wenige berauben viele des Selbstwertgefühls, um sich selbst aufzuwerten… Offensichtlich  muss  sich ein dunkler Teil der menschlichen Natur ab und zu ausleben und jemand, der behauptet, er wäre ein für allemal frei von diesen Tendenzen, irrt tragisch.

Ja… Die Voraussetzungen für das edle Spiel um einen ausgeglichenen Pegel des Selbstwertgefühls im europäischen System der kommunizierenden Röhren müssen jeden Tag aufs Neue geschaffen werden. Genauso wie im globalen Maßstab. Was ist schon die Triebkraft des heutigen Terrorismus? Doch nicht Hunger, Ausbeutung, koloniale Unterdrückung und Perspektivlosigkeit der an den Rand gedrängten Länder. Es ist das Gefühl, durch die dominierende westliche medial

Vermittelte, Zivilisation amerikanischer Prägung im eigenen Hause, quasi in eigenen Augen abgewertet zu werden. Dieses bedrückende Gefühl der Abwertung kann – nach dem ersten Prinzip der kommunizierenden Röhren – nur durch die radikalste Senkung des Pegels auf der Seite des Gegners erreicht werden: durch seine symbolische Zerstörung. Und der 11. September zeigte, dass dieses Prinzip hervorragend funktioniert.

Ist es nicht eine Sisyphus-Arbeit, ständig bereit zu sein, seine eigene Position kritisch zu hinterfragen, sich selbst einzuschränken und den Anderen aufzuwerten und zu fördern? Für Menschen, die nicht unbedingt an Gott glauben, die nicht das Gefühl haben, durch ihr Tun Punkte für das Jenseits zu sammeln, liegt das an der Grenze des Machbaren. Dennoch ist es möglich.

Wir haben in unserem europäischen – und auch deutsch-polnischen-Alltag viele Beispiele bewährter und auch neuerrichteter Strukturen, in denen die goldene Flüssigkeit Herz und Gewissen der Nachbarn speist. Mit einem erbauenden Beispiel haben wir hic et nunc zu tun. Eine deutsche Stiftung verleiht Preise an junge Polen und Tschechen… „Der Wunsch der Stifterin, der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH, ist es, über die Förderung der Archäologie den grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Dialog zu intensivieren, das Wissen über die gemeinsame Vergangenheit zu mehren, wissenschaftliche Exzellenz auszuzeichnen sowie innovative Ideen und Forschungsansätze zu unterstützen“ heißt es in der Präambel des Statuts. Es ist aber nicht der tiefste Sinn des Vorhabens. Die Preisträger werden zwar für ihre Leistung belohnt, bekommen aber einen Bonus, von dem sie in Zukunft etwas Anderen abgeben werden. Und ob in der Zukunft die, die durch die Preisträger weiter beschenkt werden, Ukrainer oder Slowaken sei, spielt keine Rolle: das edle Handwerk der wertemäßigen Pflege der Wissenschaft, der Kultur und der Nachbarschaft wird fortgesetzt.

Ruhm und Dank der Stifterin, Ruhm und Dank den Preisträgerinnen, Ruhm und Dank allen, die zu der heutigen Zeremonie beigetragen haben. Gemeinsam werden wir es schaffen, dem Verbindenden, dem Ausgleichenden und dem Friedlichen selbst in schwierigen Zeiten einen gebührenden Glanz zu verleihen!